Policy Briefing Germany – März 2023

Der frühere SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering ist bekannt für seinen Wortwitz und zugespitzte Formulierungen. In für die SPD stürmischen Zeiten nannte er das Amt des Parteivorsitzes „das schönste Amt neben dem Papst“, das Dasein als Opposition betitelte er als „Mist“. Im NRW-Wahlkampf des Jahres 2005 löste er mit einem Bild-Zeitungsinterview eine kontroverse Debatte über verantwortungsvolles Unternehmertum aus. Damals kritisierte er: „Manche Finanzinvestoren verschwenden keinen Gedanken an die Menschen, deren Arbeitsplätze sie vernichten. Sie bleiben anonym, haben kein Gesicht, fallen wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter. Gegen diese Form von Kapitalismus kämpfen wir.“ Seither ist in den Köpfen vieler Menschen das Bild der gefräßigen, einfallenden Heuschrecken mit Private-Equity-Unternehmen und Investoren verknüpft.

Nun – 18 Jahre später – sind die Heuschrecken zurück im politischen Diskurs. Zurück geholt hat sie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. Kurz vor Weihnachten gab er der Bild-Zeitung ein Interview, das viele aufhorchen ließ. Es gäbe den fatalen Trend, dass Investoren medizinische Versorgungszentren mit unterschiedlichen Facharztpraxen aufkauften, um sie anschließend mit maximalem Gewinn zu betreiben. Der Minister kündigte an: „im ersten Quartal 2023 werde ich einen Gesetzesentwurf vorlegen, der den Einstieg dieser Heuschrecken in Arztpraxen unterbindet. Die Praxen müssen denen gehören, die dort tatsächlich arbeiten.“ Damit belebt er die Debatte über die Rolle von MVZs in der ambulanten Versorgung wieder und erhält lautstarke Unterstützung ausgerechnet aus Bayern. Der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) forderte Karl Lauterbach in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) Anfang Februar auf, „den Ankündigungen Taten folgen zu lassen und einen Gesetzentwurf vorzulegen“. Es bestünde dringender Handlungsbedarf, weil sich ansonsten die Strukturen verfestigten und irreversible Schäden für die medizinische Versorgung der Bevölkerung entstünden. Nach Aussage des bayerischen Ministers gäbe es bereits teilweise monopolartige Strukturen oder Konzentrationsprozesse, bei denen die Rendite im Vordergrund stünde und nicht das Wohl der Patienten. Wahltermin in Bayern ist im Übrigen am 8. Oktober 2023.

Ein Blick auf die Fakten

In den zurückliegenden Monaten wurden zahlreiche Gutachten und Forderungskataloge veröffentlicht, die den Handlungsbedarf zur stärkeren Regulierung von medizinischen Versorgungszentren belegen bzw. unterstreichen sollen. Besonders lautstark traten dabei die Kassenärztliche Vereinigung Bayern, flankiert durch ein beim IGES-Institut in Auftrag gegebenes Gutachten zur Versorgungsanalyse in Bayern, sowie die Bundesärztekammer auf. Immer wieder wurde von politischen Akteuren und Verbänden der Vorwurf erhoben in investorenbetriebenen MVZs stünden Renditeinteressen über dem Patientenwohl. Es drohe der Ausverkauf des deutschen Gesundheitswesens, war jüngst in der Süddeutschen Zeitung zu lesen. [1]

In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion stellte das Bundesgesundheitsministerium hingegen im Januar fest, dass der Bundesregierung keine ausreichenden Erkenntnisse vorlägen, um zu beantworten welche Auswirkungen auf die Versorgungsqualität die Leistungserbringung durch investorenbetriebene MVZs habe. So stellt sich die Frage, wie der Bundesgesundheitsminister seine angekündigte Regulierung begründen wird, wenn nicht mit negativen Auswirkungen auf die Versorgung.

Angesichts der vielstimmigen Debatte lohnt zunächst ein Blick auf die Fakten

Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) gab es Ende des Jahres 2021 in Deutschland 4.179 Medizinische Versorgungszentren, Tendenz steigend. In 1.974 von diesen ist ein Vertragsarzt der Träger und in 1.881 Zentren liegt die Trägerschaft in den Händen eines Krankenhauses. Zum Vergleich: Zum Stichtag Ende 2020 gibt die KBV die Anzahl aller Praxen (inkl. Psychotherapeuten) mit 100.693 an. Im Jahr 2020 machte der Anteil der MVZs an den Praxen in Deutschland nicht einmal zwei Prozent aus.

In den MVZs befanden sich nach Angaben der KBV Ende 2021 insgesamt 24.078 Ärzt:innen in einem Anstellungsverhältnis, somit waren rund 15,8 Prozent der vertragsärztlich tätigen Ärzt:innen in einem MVZ angestellt.

Trotz einer dynamischen Zunahme der Zahl der MVZs und der dort angestellten Mediziner spielen MVZs somit aktuell nur eine untergeordnete Rolle in der vertragsärztlichen Versorgung.

Neben der quantitativen Betrachtung ist die regionale Verteilung der Zentren wichtig. Die KBV veröffentlichte hierzu zuletzt Ende 2021 Zahlen. Mit deutlichem Abstand die meisten MVZs wurden demnach in Bayern gegründet. Vergleichsweise gering ist die Zahl der MVZs in den Stadtstaaten mit Ausnahme Berlins sowie den Ostdeutschen Flächenländern (mit Ausnahme Sachsens) sowie Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz.

Nach Angaben der KBV befinden sich in ländlichen Gemeinden 15 Prozent der MVZs. In sogenannten Mittel- und Oberzentren sind 39 Prozent von ihnen angesiedelt und in den urbanen Zentren (Kernstädte) sind 46 Prozent ansässig. Die KBV kommt angesichts dieser Zahlen zu dem Schluss, dass sich MVZs sowohl in städtischen als auch ländlichen Gebieten gründen. Allerdings ließe sich die Mehrzahl der MVZ in Kernstädten und Ober- und Mittelzentren nieder.[2] Diese Betrachtungsweise nach Gebietstypen lässt jedoch außer Acht in welchem Umfang eine Region ihr Umland mitversorgt. Aus diesem Grund werden normalerweise in der Bedarfsplanung sechs unterschiedliche Typen von Planungsregionen unterschieden, von „eigenversorgt“ über „mitversorgt und mitversorgend“ bis zu „stark mitversorgt“. Für das Jahr 2020 hat das Institut für Gesundheitsökonomik anhand der Zahlen für Bayern untersucht, wie sich die MVZs mit Kapitalbeteiligung auf die einzelnen Typen der Bedarfsplanungsregionen verteilen. Dabei kommt das Institut zu dem Schluss, dass MVZs mit Kapitalbeteiligung in allen Bedarfsplanungsregions-Typen tätig seien und hier keine systematische Verzerrung bzw. Konzentration erkennbar sei. Die Zentren leisteten insgesamt einen wichtigen Beitrag zur flächendeckenden Versorgung.[3]

Für eine umfassende Analyse der Bedeutung von MVZs für die medizinische Versorgung und möglicher Folgen darf der Blick auf das Abrechnungsverhalten nicht fehlen. Ein IGES-Gutachten im Auftrag der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern aus dem Jahr 2022 konstatiert: „MVZ in Bayern rechnen je Arztgruppenfall im Vergleich zu Einzelpraxen ein um 5,7 Prozent höheres Honorarvolumen ab. Bei MVZ, die in Besitz von Finanzinvestoren sind, sind es 10,4 Prozent mehr. Vor allem bei MVZ der Fachrichtungen Augenheilkunde, Gynäkologie und Fachinternisten sind diese Steigerungen des Honorarvolumens zu beobachten.“[4] Dies deckt sich in der Tendenz mit den Erkenntnissen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi), das im Rahmen seines MVZ-Panel Reports feststellt, dass MVZs für die Untersuchungsdauer (4. Quartal im Jahr 2019) Honorare in Höhe von 1,5 Milliarden Euro abgerechnet hätten, diese jedoch nur 7,0 Prozent aller im ambulanten Versorgungsbereich vorhandenen ärztlichen Kapazitäten einsetzen.[5] Keine Aussage traf das Institut dazu, ob dies auf ein effizienteres Management zurückzuführen sei, oder darauf dass seitens der MVZs generell überproportional abgerechnet werde.

Mit Blick auf das IGES-Gutachten kommen Fricke, Köhler und Rau in ihrem Gutachten im Auftrag des Verbands der akkreditierten Labore zusammen mit dem Verband der Betreiber medizinischer Versorgungszentren hingegen zu dem Schluss, dass sich grundsätzlich keine Auffälligkeiten anhand der Honorarvolumina der verschiedenen Versorgungsformen erkennen ließen. Somit ließe sich auch nicht darauf schließen, dass anhand einer Form der Trägerschaft die behandelnden Ärzt:innen in besonderer Weise ökonomische Interessen bei der Behandlung berücksichtigten.[6]

Dieser Befund erscheint gleich in mehrfacher Hinsicht plausibel. Schließlich entspricht es dem medizinischen Berufsethos, die bestmögliche Versorgung der Patient:innen anzustreben und nicht zuvorderst ökonomische Interessen zu verfolgen. Diese ethische Grundüberzeugung findet ihren regulativen Ausdruck in § 95 Abs. 1 SGB V, wonach die ärztliche Leitung eines MVZ unabhängig ist und in medizinischen Fragen frei von Weisungen agiert. Zudem lässt sich nicht überzeugend argumentieren, warum ein in einem MVZ angestellt tätiger Mediziner stärker durch ökonomische Interessen geleitet sein sollte als sein niedergelassener Kollege mit eigener Praxis. Schließlich muss der selbstständig tätige Mediziner das finanzielle Risiko allein stemmen. Auf der anderen Seite wäre es verwunderlich, wenn in einem MVZ keine Optimierung von Prozessen und Abrechnungsmodalitäten erfolgte, denn die Schaffung von Synergien und die Erschließung von Rentabilitätsreserven gelten als wichtige Bestandteile des Geschäftsmodells. In einem MVZ muss nicht jeder einzelne Arzt die Zeit für Honorarabrechnungen und weitere oftmals komplexe Fragen der Praxisverwaltung aufwenden, sondern kann auf ein effizientes Praxismanagement inklusive Qualitäts- und Compliancemanagement bauen.

Neue Arbeitsrealitäten auch in der medizinischen Versorgung

So ist es durchaus auch im Sinne der Patient:innen, dass sich Mediziner auf ihre Patient:innen konzentrieren können. Angesichts des steigenden Fachkräftemangels erscheint eine solche Entlastung der Mediziner von fachfremden Aufgaben auch gesamtgesellschaftlich betrachtet sinnvoll.

Dazu kommt, dass einerseits immer weniger junge Ärzt:innen eine eigene Praxis mit erheblichen Investitionen als attraktiv wahrnehmen und sie sich andererseits, genauso wie ihre Mitarbeiter:innen, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf wünschen. Sie wollen stattdessen im Team und auf dem neusten Stand der Technik arbeiten, sich kontinuierlich fachlich weiterentwickeln und sich mit Kolleg:innen (interdisziplinär) austauschen. Bereits heute finden viele Mediziner keinen selbstständigen Praxisnachfolger mehr, eine Entwicklung, die sich in den kommenden Jahren voraussichtlich weiter verschärfen wird.

Angesichts dieser Situation besteht die politische Aufgabe darin, eine flächendeckende ambulante Versorgung einer älter werdenden Bevölkerung bei weniger medizinischem Fachpersonal sicherzustellen.

Lösungen für eine zukunftsfähige ambulante Versorgungslandschaft entwickeln

Vier Ansatzpunkte erscheinen hierbei besonders vielversprechend:

  1. Die Patientenautonomie stärken – beispielsweise über Transparenzregelungen.
  2. Die Unabhängigkeit ärztlicher Entscheidungen von ökonomisch motivierter Einflussnahme weiter stärken.
  3. Die Stärkung der regionalen Zulassungsausschüsse.
  4. Langfristige Investitionen in die Gesundheitsversorgung ermöglichen – zum Beispiel durch Vorgaben für Wiederverkaufsfristen.

Für die ambulante Versorgung in Deutschland lässt sich feststellen, dass es sich keineswegs um eine durch Heuschreckenschwärme abgegraste Landschaft handelt oder dieses Risiko ernsthaft bestünde. Das System der regulierten Selbstverwaltung ist sehr stabil. Hingegen hat das Ziel, als niedergelassener Mediziner mit eigener Praxis tätig zu sein an Attraktivität verloren. Hier sind Politik, berufsständische Organisationen und Selbstverwaltung gemeinsam gefordert, Konzepte zu erarbeiten, um sich verändernde Anforderungen junger Ärzt:innen und die Bedürfnisse einer alternden Gesellschaft gut miteinander in Einklang zu bringen. Medizinische Versorgungszentren können hierbei eine sinnvolle Ergänzung sein. Um eine auf Trägervielfalt basierende, zukunftsfähige ambulante Versorgungslandschaft zu gestalten, bedarf es einer klugen, zielgenauen Regulierung.

Man darf gespannt sein auf die konkrete Ausgestaltung des von Minister Lauterbach angekündigten Gesetzesentwurfes.

[1] Vgl. Berndt, Christina: Der Arzt Ihres Vertrauens, Süddeutsche Zeitung, 16.02.2023, online verfügbar unter: https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/arztpraxis-investoren-lauterbach-gesundheitssystem-patient-e230593/

[2] Vgl. Kassenärztliche Bundesvereinigung: Medizinische Versorgungszentren Aktuell – Statistische Informationen zum Stichtag 31.12.2021, in: www.kbv.de, 31.12.2021, Medizinische Versorgungszentren Aktuell (kbv.de) (abgerufen am 21.03.2023).

[3] Vgl. Institut für Gesundheitsökonomie: Darstellung und Bewertung der ambulant-ärztlichen Versorgung in Deutschland durch Medizinische Versorgungszentren mit Kapitalbeteiligung, Dezember 2012, S.56 ff.

[4] Investoren-MVZ in Bayern: höhere Honorarumsätze als Einzelpraxen, IGES Institut, o. D., Investoren-MVZ in Bayern: höhere Honorarumsätze als Einzelpraxen (iges.com)

[5] Vgl. Winnat, Christoph: Honorarverteilung: 15 Prozent des GKV-Honorars gehe an MVZ, in: AerzteZeitung.de, 21.12.2022, 15 Prozent des GKV-Honorars gehen an MVZ (aerztezeitung.de) (abgerufen am 21.03.2023).

[6] Vgl. Fricke, Frank-Ulrich/ Köhler, Werner/ Rau, Stephan: Die Rolle von MVZ in der ambulant-ärztlichen Versorgung – besteht regulatorischer Handlungsbedarf?, Februar 2023, Memorandum ALM und BBMV e.V.: Die Rolle von MVZ in der ambulanten medizinischen Versorgung – besteht regulatorischer Handlungsbedarf? (alm-ev.de), S.15.